Armando A. Simon-Thielen
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Diese Seite wurde von Michal Shmuel erstellt. All rights reserved. 2010.          Fotograf: Harald Mielke
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Vorbereitungen auf den Beruf des "Botschafters"

 

Wir waren angekommen, meine liebe Seele, in der freien Gesellschaft. Es bieten sich dir Möglichkeiten, dich deinen Fähigkeiten gemäß und mithilfe dir wohlmeinender, dich fördernder Menschen, Ziele zu erreichen. Für uns bedeutete dies ein Schulabschluss für den Zugang zu einem Hochschulstudium.

Nicht alle schulpädagogisch entscheidenden Menschen waren der Meinung, dass wir dieses Ziel erreichen könnten. Hinsichtlich der gesellschaftlichen Stellung war unsere Familie ein Niemand. Einflüsse oder Beziehungen konnten wir nicht geltend machen. Auch dieser Aspekt war Teil dieser freien Gesellschaft damaliger Zeit Anfang/Mitte der 1960er Jahre. Doch mit dem Mut und der Durchsetzungskraft unserer Mutter wurde mir die Gelegenheit geboten, meine Fähigkeiten eines schulischen Werdegangs  zur Ermöglichung eines Studiums unter Beweis zu stellen. Der Weg war geebnet. So sollten wir ihn denn auch beschreiten können. Die Freude am Lernen half uns.

 

 

Der Libellenflug

 

Acht Jahre hatte sie in ihrem Kokon warten müssen, um auszuschlüpfen. Sie war eine wunderschöne Libelle. In allen Farben schimmerten ihre Flügel. Wie alle Insekten war ihr ein makelloser Körper gegeben. Ihre Augen glichen denen des Argus. Nichts konnte ihnen entgehen. Gerade hatte sie sich aus den Resten ihres schützenden Hauses des Wachstums hinaus gezwängt, schon breitete sie die Flügel aus und schnurrte davon. Elegant zog sie ihre Schleifen, das Sonnenlicht gab ihr Orientierung und Sicherheit für ihren Flug. In unvorstellbar langer Zeit hatte sie die Schöpfungsordnung für ihr Dasein bereitet. Vollkommen für ihre Aufgaben und für ihr Leben. Diese Kreatur ist Ergebnis eines natürlich-schöpferischen Prozesses.

Ihr Werden blickt zurück auf viele Stufen einer nicht zu wiederholenden Entwicklung.

Sie ist die Krönung eines Willens, der zeigt, dass sein Wirken Wundervolles hervorbringt und weiterhin entstehen lassen wird.

 

So malt die leuchtende und glitzernde Ruth eine entstehende Szene vor meinen Augen. Auf dem Weg in mein gemietetes Zimmer in einer mir noch fremden Stadt sitze ich an einem Sommerabend auf einer Bank im nahen Park. Meine Ruth schmiegt sich auffordernd in meine Hand, so als wollte sie mir den vor mir liegenden Weg weisen Ich rolle sie auf, hefte ihr Band an mein Hemd und schon sehe ich dieses Bild einer bunten Wiese, in sie eingeschlossen ein See, auf dem sanfte Wellen im Sonnenlicht glitzern. Frösche quaken, Hummeln, Bienen und Fliegen summen, die Grashalme, rote Mohnblumen, gelber Löwenzahn, weiße Schafgarbe, eine Wellenbewegung von Farbe, Frische und Lebenslust wiegt der leichte Wind.

 

Doch dann ist es, als trüge die Libelle eine winzige Kamera an ihrem Körper. Wiese und See werden kleiner und entschwinden dem Objektiv. Hügel und Täler ziehen vorüber, durchschlängelt von Bächen und Flüssen. Dann wechselt der Blick. So als wäre das Objektiv der Kamera nun Teil des Auges der Libelle, strebt sie einem ungewissen Horizont entgegen. Die Bildausschnitte wechseln mal nach links, mal nach rechts. Dann aber bleibt  das Kamerabild an einem entfernten den Blick fesselnden, blinkenden Fleck hängen. Immer näher rückt er und erscheint als ein Berg, in dessen Massiv Terrassen angelegt sind. Zu diesem Berg zieht es die Libelle. Zielstrebig ohne Schleifen und Umwege hält sie auf diesen Ort zu. Größer und größer wird der Berg bis er nicht mehr in den gesamten Bildausschnitt passt. Die Terrassen kommen nun näher in den Blick. Was ist das? Jede einzelne Terrasse zeigt sich als ein See. Ein Berg voller Terrassenseen. Nicht in ein Bergmassiv eingebettet - er steht in einer Ebene für sich allein. Die Libelle fliegt um ihn herum, und die Vermutung bestätigt sich. Von allen Seiten sind diese Terrassenseen in ihn eingelassen. Ein einmaliges Kaleidoskop zeigt das Bild: Funkelnde tiefe Seen mit dunklem Wasser, schmale wiesenbunte Ufer, hin und wieder eine Bank, kleine grüne Inseln in jedem See - ein atemberaubendes Panorama.

 

Sie hat einen weiten Weg zurück gelegt und ist nun müde. Die Libelle sucht einen Ruheplatz. Sie landet am Rand des untersten Sees, denn wie eine Wendeltreppe liegt einer versetzt über dem anderen um den Berg herum, hierarchisch angelegt, als sollten sich die Besuchenden nicht unwillkürlich dem einen oder einem beliebig anderen nähern. Wie bei der Wendeltreppe folgt spiralförmig einer Stufe die nächste, beginnend mit der untersten. Der gesamte Berg ist bedeckt mit diesen sich um ihn windenden Seeterrassen. Die Libelle trinkt ein paar Tropfen frischen Wassers. Auch hier bewegt die sanften Wellen eine leichte Brise. Auf den kleinen Inseln inmitten des Sees wiegen sich die Halme eines dichten Seegrases. Gestärkt vom Trinken schwebt sie hinüber vom Ufer zu diesem leuchtend grünen Gras. Auf einem Halm lässt sie sich nieder.

 

Da sitze ich nun und schaue in die schimmernde Dämmerung. Es liegt ein neuer Weg vor mir. Ein Weg in eine vollkommen neue Welt. Es ist eine Welt des Studierens und Entdeckens, eine Welt des Diskutierens und des Hoffens, eine Welt, in der ich die Botschaft vernehme, wie persönliche Glaubwürdigkeit und Kongruenz zwischen Denken, Reden und Handeln zu den später zu übernehmenden beruflichen Aufgaben gehören sollen. Werde ich dem wohl gerecht werden können? Vorerst aber wird es das Eintauchen in eine Welt des freien Geistesspieles, um die eigenen Kongruenzen wahrzunehmen in Hinsicht auf die späteren Aufgaben.

 

Meine Ruth zittert unmerklich, leuchtet noch einige Lux intensiver und zieht mich wieder in den Bann ihrer Bilder:

Nach einigen Augenblicken des Ausruhens und sich Umschauens an diesem untersten See geschieht etwas Überraschendes. Die Kamera richtet sich auf die nächstliegende kleine Insel. Sie schaut direkt mit den Augen der Libelle. Dort  erhebt sich gleich einem Periskop ein dicker Stängel über die anderen Grashalme hinaus. Auf seiner Spitze trägt er eine knollenähnliche durchsichtige Kugel, leicht wie eine Seifenblase, fest wie Kunstharz. In ihr dreht sich ein Zylinder um seine kreiszentrale Längsachse, ähnlich einer tibetischen Gebetsmühle. Um den Zylindermantel  ist ein beschriebenes Pergament gespannt. So viel ist aus der geringen Entfernung zu erkennen. Der Stängel verharrt in seiner Bewegung, doch der Zylinder dreht sich weiter. Von der Bewegung angelockt schwebt die Libelle hinüber und bleibt in der Luft vor dem Zylinder stehen. Nun sind geschriebene Buchstaben und Wörter auf dem Pergament gut lesbar. „Platons Höhlengleichnis“. Neben dem Text sehe ich sie sitzen, die Menschen, angekettet in der Höhle, vor ihnen bewegen sich die Schatten, so wie Platon diese Szene schildert. Umschauen können sie sich nicht. „Realienstreit“ erscheint als ein weiteres Wort auf dem Pergament.

Auch auf der benachbart gelegenen Insel erhebt sich ein Stängel mit einer knollenähnlichen durchsichtigen Kugel aus dem Gras. Doch als die Libelle dorthin fliegen will, prallt sie gegen eine unsichtbare undurchdringliche Mauer, wie eine Glasglocke wölbt sie sich über die Insel. Verwirrt dreht die Libelle hilf- und ziellos einige Runden, horizontal und vertikal. Nirgends gibt es ein Entrinnen. Sie schwebt ratlos wieder auf die Kugel zu. Da hebt sich die Kugel vom Stängel ab, und die mit schwarzer Tusche kunstvoll geschwungenen Schriftzüge lösen sich von ihrem Pergament, schlängeln sich wie Ketten hin zur Libelle. In einem Reigen bewegen sie sich um die Betrachterin. Die Buchstaben verwandeln sich in Bilder. Diese zeigen in loser Folge Porträts von Personen der Geistesgeschichte, die mit dem „Realienstreit“ in Verbindung zu bringen sind. Dann  finden die Bilder zu ihren Buchstaben zurück, und diese suchen durch die Augen der Libelle Einlass in dieses Geschöpf. Nun ist sie Trägerin dieser Schlüsselwärter und ihrer Inhalte.

Wiederum versucht das verwunderte Tier einen Ausgang aus diesem immer noch vermuteten unsichtbaren „Gefängnis“ - und siehe da, die Glasglocke scheint verschwunden. Ungehindert strebt sie der nächsten Insel zu. Einen Augenblick zögert sie zu landen, um sich auszuruhen. Würde sie wiederum gefangen genommen? Im Banne neuer Erkenntnisse wird sie hier verweilen. Doch sie weiß, nach einer gewissen Zeit kann sie diese andere Insel auch verlassen. Auf dem Zylinderpergament dieses wundersamen Gewächses erscheinen die ersten Wörter der Bibel in ihrer Ursprache. „Schöpfungserzählungen sind literarisch-kunstvolle Beispiele der geglaubten und erzählten Beziehung zwischen Schöpfer und Schöpfung als Ausdruck von geschöpflich-erlebter Geborgenheit“, zeichnet sich durch die Kamera dem Betrachter vor die Augen. „Creationismus oder Naturwissenschaft?“ kann er zudem erkennen. Jeder der Buchstaben dieses Gegensatzpaares zeigt einen mit durcheinander wirbelnden Frage- und Ausrufezeichen, Kreuzespfählen und Scheiterhaufen, angefüllten Raum. Auch diese Buchstabenketten finden Eingang in die Libelle. Sie steigt auf, gewinnt mehr und mehr an Höhe, bis die Kamera den Seeterrassenberg unter sich in seiner ganzen Größe erfasst. Das Bild erstarrt, rollt sich wie ein Plakat zusammen.

 

Doch es kommt ein weiteres Geschehen in den Blick. Das Bild bewegt sich erneut, und die Libelle fliegt jenseits des Berges zu einem sanften, bewaldeten Hügel, auf dem sie ein Odeon erblickt hat. Sein weißer Marmor will das Leuchten der Sonne verdunkeln, Schlanke dorische Säulen säumen das Rund. Sie fliegt um den inneren fensterlosen Raum. Eine halb geöffnete schwere Zedernholztür führt ins Innere, das durch eine Öffnung in der konischen Decke das hereinflutende Sonnenlicht willkommen heißt. Auch die Wand ist mit makellos weißem Marmor ausgekleidet. Die Libelle schwebt über einem in den bunten Marmorboden eingelassenen Relief, ebenfalls aus weißem Marmor. Nebeneinander liegen Stadtansichten aus der Vogelperspektive. Von rechts nach links sind Jerusalem mit dem Berg Moria, Athen mit der Akropolis und Rom auf seinen sieben Hügeln zu erkennen.

Hinter dem Relief erhebt sich ein im Zentrum des Raumes elliptischer Tisch. Auf ihm stehen in drei Brennpunkten drei herausragende Bauwerke dieser drei Städte: der Jerusalemer Tempel, der Athener Parthenon und das Marsfeld von Rom.

Zwischen der den Raum zum Säulenumlauf begrenzenden Wand und unterhalb der Basis der offenen Kuppel läuft ein Schriftfries in Hebräisch, Griechisch und Latein um die Rotunde:

„Gibt es eine Symbiose zwischen der Gabe der Tora am Sinai, der griechischen Philosophie der Klassik und des Platonismus und dem Staatsmachtanspruch Roms?“ Wie verhalten sich Sinai, Athens Akropolis und Roms Martfeld zueinander?

Auch dieses Bild rollt sich zusammen, um in meiner Ruth aufbewahrt zu werden.

 

Meine Ruth verblasst. Ich rolle sie ein, binde ihr Band um sie zusammen, und sie gleitet in meine Jackentasche.

Drei neue Bilder fügen sich an das erste Bild, das die Bibliothek zeigt, und erweitern das nun entstandene Leporello.

Ich sitze auf der Bank. Es ist dunkel geworden. Der zunehmende Halbmond beleuchtet eine laue junge Nacht. So wird es sein, denke ich, die Seetrassen vor Augen, ein aufsteigendes Wachsen, ein von Begeisterung getragenes Entdecken dessen, was wir in unserer mitteleuropäischen Welt Kultur nennen, lerne ich kennen. Es ist nicht ein unüberwindlicher Berg. Biotop für Biotop breitet sich auf ihm aus. Jedes lädt mich ein zum Verweilen, und ihre Botschaften gehen in mich ein, damit ich mich mit ihrer Hilfe in mir differenzierter wahrnehme und meine Mitte und meine Kongruenzen finde - und meine Aufgaben.

Die Frage auf dem Fries des Odeon wird eine meiner schwierigsten lang währenden Aufgaben. Wird sie je zu bewältigen sein?

Es wird kühl. Nicht mehr weit ist es bis zu meinem neuen Zuhause, der Ausgang einer weiten Reise.

 

 

Vorbereitung und Eintritt in die Gilde der „Botschafter“

 

Wer darf sein eigenes Porträt malen?

 

Meine Aufgaben für diesen Tag hatte ich zu Ende gebracht. Vor dem Schlafengehen trafen wir uns immer zu einem Schlaftrunk. Ein Glas Wein, ein Saft, je nach Vorlieben brachte jeder etwas mit. Wir ließen den Tag Revue passieren. Fragen und Antworten wurden ausgetauscht. Es war ein entspanntes Zusammensein.

 

Einige erzählten von einer Einladung, die sie erreicht hatte. Wir begaben uns nicht nur auf den Weg eines Studiums. Für viele von uns war es wichtig, nach den zu bestehenden Prüfungen als Fachleute für Daseinsdeutung tätig zu sein. Die Daseinsdeutungsämter wollen aber schon möglichst früh wissen, wer später unter ihrer Ägide zu arbeiten gedenkt. Denn für die Autorisierung der Daseinsdeutung beanspruchten sie ein gewisses Monopol. Nicht nur der Weg des Studiums der Bewerber war also für sie wichtig, über dessen Inhalte sie selbstverständlich wachten. Einen zweiten Weg – sozusagen einen, der parallel verläuft – gaben sie vor. Diesen Weg überwachten sie unmittelbar. In von den Ämtern organisierten besonderen Schulungen und Beratungsgesprächen sollten wir Bewerber auf diesem Parallelweg begleitet und zu ihm befähigt werden. Diese Begleitung wollte ein gewisses Maß herausgehobenen Bewusstseins vermitteln. -Ihr wollt zu einer besonderen Berufsgruppe gehören, Daseinsdeuter wollt ihr werden und diese Berufung zu eurem Lebensinhalt machen. Wir zeigen euch, was euch erwartet. Wir helfen euch beim Hineinwachsen in die Aufgaben. Auf einem einzigartigen Weg begebt ihr euch und werdet  aufgenommen in unseren Kreis. Besondere Bevollmächtigungen kommen auf euch zu und können euch verliehen werden, wenn ihr unseren Weg und unsere Begleitung akzeptiert. Diese Vollmachten sind ein unvergängliches Gut, wenn ihr es hegt und pflegt. Gemeinsam wollen wir dafür Sorge tragen, dieses Gut zu stärken und zu bewahren.-

 

Nach und nach verabschiedeten sich alle zur Nacht. Mein erster Vorlesungstermin am nächsten Morgen war zeitig. Auch ich zog mich zurück. Ich setzte mich in meinem Zimmer in einen Stuhl neben dem Schreibtisch, nahm ein entspannendes Buch, um noch ein paar Zeilen zu lesen. Lag ich nämlich erst einmal im Bett, schlief ich schnell ein. Ich las die ersten Zeilen auf Seite 137, da kam mir unwillkürlich meine Ruth in den Sinn. Sie brachte sich in Erinnerung. Also wollte sie mir wieder einmal einen Weg beschreiben. Meine rechte Hand glitt in die Tasche, und sobald die Ibisfeder meinen Augen begegnete, leuchtete sie in diesem vertrauten blauen Licht. Auch der feine weiße Firniss schillerte verheißungsvoll. „Nun, was hast du heute mitgebracht?“ Ich dachte an meine drei Vertrauten in Nicäa und fühlte, auch sie waren mit ihren herzlichen Gedanken gerade bei mir. Ich löschte das Deckenlicht.

 

In einer weiten Ebene, immer wieder aufgelockert durch Hügel und sanfte Täler hörte ich ein leises Fliesen und Plätschern wie Wasser in einem gemächlichen Fluss, und hin und wieder Töne von Stimmen trug ein milder Wind zu mir her. Zu diesem Fluss hatte ich mich zu begeben. Ein Schreiben war in mein neues Zimmer gesandt worden. Mit Hilfe meiner Ruth hatte ich es gerade gelesen, bevor die Szene wechselte: „Sehr geehrter Herr ...“. Dahinter war mein Name mit Hand in eine Leerzeile eingetragen. „wir freuen uns, dass sie sich für einen Weg entschieden haben, den Sie ab jetzt mit uns und anderen Menschen gemeinsam gehen wollen. Bitte finden Sie sich zu einem ersten Gespräch an dem und dem Tag um die und die Uhrzeit in unserer Galerie ein. Am Fluss in der weiten Ebene wird Sie einer unserer Mitarbeiter empfangen und dorthin geleiten. Mit freundlichen Grüßen...“ Danach folgte ein unleserlicher Schriftzug. Unter ihm konnte ich “Praetorius, Galerieamtsrat“ lesen. Beim Lesen des Schreibens erinnerte ich mich an die Gespräche der Kollegen und Kolleginnen über die Einladungen des Daseinsdeutungsamtes.

Da kam der Fluss in den Blick. Er war nicht sehr breit und nur knöcheltief. Neben- und hintereinander wateten Männer und wenige Frauen in langen weiten Gewändern, deren Saum oberhalb ihrer Füße endete, flussaufwärts. Jeder hielt einen großen mächtigen Stab in der rechten Hand. Sie unterhielten sich leise, manchmal nickten sie bedächtig. Hin und wieder blieb einer stehen und schaute zum weiten Horizont. Auch konnte ich den einen oder eine andere am Ufer stehen sehen, um den oder die sich am Ufer Vorbeiziehende versammelt hatten, um ihm oder ihr zuzuhören. Doch immer hielten sie ihre Füße im Wasser und im Kontakt mit dem Flussbett. Keiner legte seinen würdigen Stab aus der Hand.

 

Dort, wo ich ans Ufer gelangen sollte, stand ein Mann und blickte in die Richtung meines noch zurückzulegenden Weges. Ich beschleunigte meine Schritte und erreichte ihn. Er streckte mir seine Hand entgegen. „Praetorius. Sie sind also unser neuer Kandidat. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.“ „Danke.“ Er drehte sich hin zum Gebirge, in dem ich die Quelle oder Quellen des Flusses vermuten konnte, und im Handumdrehen standen wir in einer hohen quadratischen Halle mit weiter Grundfläche. An den Wänden hingen Porträts von vielen Männern und wenigen Frauen. Alle waren sie gekleidet wie diejenigen, die im Fluss unterwegs waren, und jeder wie auch die Abbilder der wenigen Frauen hielten einen mächtigen Wanderstab. Einige solcher Frauen und Männer, den Stab in ihrer Hand, standen an einer Wand und waren mit dem Malen ihres Porträts beschäftigt. „Ja“, Herr Praetorius schaute in Richtung der Malenden: „Wenn einer oder eine hier angekommen ist mit dem Stab, malt er sein oder ihr Porträt für unsere Galerie. Nur mit dem Stab ist es möglich, das Bild von sich selbst zu malen. Er gibt Ihnen die Befähigung dazu. Sie“, er schaute mich direkt an, „bekommen wohl auch einen solchen Stab und das Gewand, damit sie Ihren Weg beginnen und hier beenden können.“

 

Er verließ mit mir die Halle und führte mich durch einen langen Gang, an dessen Wänden ebenfalls Porträts den Vorbeieilenden Blicke zuwarfen. Am Ende des Ganges öffnete Herr Praetorius eine schwere Holztür mit der Hilfe von drei Schlüsseln. „Das ist unsere Schatzkammer. Hier bewahren wir die Stäbe auf. Alle sind schon benutzt. Es sind wertvolle Erbstücke von unseren Vorgängern. Immer wieder werden sie an neue Bewerber weiter gegeben. Wenn einer von uns abberufen wird, kommt sein Stab hierhin zurück, bis ein anderer ihn übernimmt.“ Er wählte einen Stab aus, der zwar größer war als ich, wie es bei allen anderen auch war, so versicherte er mir. Aber ich sollte etwas später merken, dass er zu mir passte.

 

Er nahm ihn in seine Hand, und wir wanderten den Gang zurück und durchquerten die Halle. Hinter einer von zahlreichen Türen zwischen den Porträts gelangten wir in sein Büro. Auch hier wieder Porträts an den Wänden. Ansonsten war der Raum eher spärlich eingerichtet. Ein großer Schreibtisch nahm fast die ganze Fläche des Bodens und des Büros ein. „Bitte nehmen Sie Platz. Wir haben Ihre Bewerbung entgegen genommen. Unsere Einladung zeigt Ihnen, dass wir grundsätzlich einverstanden sind, Sie auf unserem Weg mitzunehmen. Sie bekommen nun von mir diesen Stab und das Gewand. Beide werden fortan zu Ihnen gehören wie Ihre eigene Haut. Da wäre noch eine Kleinigkeit. Lassen Sie mich Ihre Füße sehen.“ „Meine Füße?“ „Ja, bitte, nur eine Formalität.“ Ich zog Schuhe und Strümpfe aus. „Oh, da könnten wir ein Problem bekommen.“ staunte Herr Praetorius beim Betrachten meiner Füße.

„Sie haben einen Makel, gleichsam als hätten Sie sechs Zehen an Ihren beiden Füßen.“ „Ja, so lange ich lebe.“ Da brach sie wieder einmal auf die Wirkung meines Makels, die mir öfter schon bittere Stunden eingebracht hatte. Spontan erinnerte ich die Episode im Wald und das Gespräch mit dem Förster. „Warum könnten sie ein Problem werden?“ „Nun, dann will ich Ihnen das Entscheidende mitteilen. Das ist eine Behinderung: Sie haben die Menschen den Fluss aufwärts wandern sehen. Jeder hält seinen Stab in seiner Hand, und jeder watet barfuß im Wasser. Aber dieses Waten ist nicht nur ein Gehen. Mit den Füßen muss jeder Quadratzentimeter des Flussbettes berührt werden. Vor langer Zeit nahm sein Wasser zum ersten Male seinen Weg, als seine Quelle zu sprudeln begann. Nach und nach grub das Wasser das Flussbett. Viele Generationen vor uns strebten der Quelle zu. Denn sie sprudeln zu sehen, ist unser aller Ziel, ihr Bild, das wir in uns tragen, weiter zu geben - unsere Aufgabe, von unserem Weg zu ihr hin zu erzählen - unsere Botschaft. Sie gibt uns den Sinn des Seins und unserer Berufung. Der Fluss ist das Zeichen, dass alle Menschen diesen Sinn brauchen. Wir aber sind es, die ihn deuten lernen und anderen vermitteln können. Auch mit unserem ganzen Äußeren. Es könnte Zweifel geben, dass Ihnen ebendies vollendet gelingt. Das Flussbett lehrt uns das Suchen des Sinnes. Der Druck, den die Fußsohlen im Flussbett verursachen, wird über den Körper der Watenden an den Stab übertragen. Nur wenn wir diesen Weg gehen, kommen wir dem Sinn näher. Hin und wieder werden Sie innehalten und am Gestade anderen von ihrem Weg zur Quelle und von Ihrer Hoffnung, sie zu erreichen, erzählen. So verstehen auch jene den Sinn ihres Daseins. Auch diese Unterweisungen wird der Stab in sein Gedächtnis aufnehmen. Denn die Bewegungen Ihres Körpers während Ihrer Reden üben ebenfalls einen Fußabdruck aus. Der Stab ist das Gedächtnis der gesamten zurückgelegten Wege derer, die er bisher begleitete, und ihrer Hoffnung, die Quelle zu erreichen. Jeder weitere Watende vermehrt dieses Gedächtnis des Stabes. Er ist das Symbol für dieses Ziel. Sind nun an den Füßen eines Wanderers, wie in Ihrem Falle, sechs statt der üblichen fünf Zehen, werden andere Signale an den Stab übermittelt. Doch nur wenn der Stab die übermittelten Signale als ihm aus der Vergangenheit Vertrautes erkennt, wird er seinerseits dem Watenden als Symbol des Zieles inwendig bewusst, und das wird es ihm später ermöglichen, sein Porträt zu malen. Eine Behinderung könnte da störend wirken.“

„Was ist so wichtig an diesem Porträt?“ „Nur wenn Sie Ihr Porträt selbst malen und vollenden können, werden Sie von sich und Ihre Nachkommen von Ihnen stolz sagen können: Ich gehöre – er gehört - dazu. Für die Daseinsdeutung arbeitete ich mein – arbeitete er sein - ganzes Leben. Sie sind somit Zeuge des Sinnes dieser Welt. Viele gäben etwas darum, dies von sich sagen zu können. Sie werden erkennen, dass dieser Weg hierhin einzigartig, unvergleichlich sein wird.“

„Gut, wie werden wir also verfahren?“ „Sie bekommen Ihren Stab und Ihr Gewand. Letzten Endes wird sich erweisen, ob Sie diesen Weg gehen wollen, und ob Ihr Stab das Einzigartige des Sinnes, wie wir ihn verstehen, in Sie hinein gibt, und Ihnen Ihr Selbstporträt ermöglichen wird.“ „Gab es denn nicht auch andere Bewerber, deren Erfolgsaussichten zweifelhaft waren, die es aber dennoch schafften, ihr Porträt zu vollenden?“ „Natürlich gab es solche. Aber immer wieder gab es unter diesen auch nicht wenige, die scheiterten.“ „Was ist in Ihren Augen ein Scheiten?“ „Derjenige scheitert, der nicht ankommt oder der sein Porträt nicht vollenden kann.“ „Scheitern bedeutet also für Sie, nicht zu Ihresgleichen gehören zu können, auch wenn es versucht wurde.“ „So ist es.“

Ich nahm Stab und Gewand entgegen. „Für dieses Mal können Sie Ihre Schuhe wieder anziehen. Es wird aber das letzte Mal sein. Denn nun beginnen Sie Ihren Weg im Fluss.“ „Vielen Dank.“ „Ich würde mich freuen, wenn Sie Ihr Porträt malen und vollenden können.“ „Auf Wiedersehen.“

Er schritt an mir vorbei und öffnete die Tür. Im nächsten Augenblick stand ich am Gestade des Flusses. Ich zog meine Schuhe aus, legte das Gewand an und setzte zuerst den rechten, dann den linken Fuß in den Fluss. Ich fühlte unter meinen Füßen die Kiesel. Mein Weg hin zum Porträt hatte begonnen. Mein Stab half mir, mich auf diesem ungewohnten Weg zurecht zu finden. Mein Entdeckungsweg lag vor mir, voller neuer Erfahrungen, voller interessanter Begegnungen, voller neuer Gedanken. Aber würden denn meine sechszehigen Füße alles das übertragen, was sie ertasten sollten, und würde mein Stab ihre Signale aufnehmen und als die ihm vertrauten erkennen und bewahren? Und würde er sich als Symbol der Quelle des Flusses – des Weltsinns - in mir wiederfinden können? Die Wanderung sollte interessant werden, würde aber auch Unwägbares nicht ausschließen. Unschlüssig schaute ich hinter mir her, wie mich meine Ruth mir zeigte.

Sie verblasste, und das Bild in meinem Zimmer erstarb. Fast von selbst glitt sie zurück in meine Tasche. Was gäbe ich dafür, jetzt mit meinem Tor und den Göttlichen sprechen zu können. Ich schlief unruhig.